Was haben wir besprochen?
In den letzten Wochen des Deutschunterrichts widmeten wir uns einem dunklen Kapitel der (Literatur-)Geschichte: Dem Holocaust. Unsere Herangehensweise an diese Thematik bestand darin, dass wir in der Klasse unterschiedliche Erinnerungstexte von Holocaustüberlebenden lasen und diese sowohl in Gruppen als auch im Plenum besprachen. Im Rahmen dieser Diskussion kamen wir auch auf ein Thema zu sprechen, welches für Betroffene auch Jahrzehnte nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern noch immer eine tiefe psychische Belastung bedeutet. Hierbei spreche ich vom Überleben als Schuld.
Das Leben in den Konzentrationslagern war geprägt von einer komplexen Dynamik, sowohl zwischen den Häftlingen und den Wärtern in den Konzentrationslagern als auch unter den Häftlingen selbst. Nährboden für Rivalitäten gab es im von Entbehrungen geprägten Lageralltag mehr als genug - beispielsweise der Diebstahl von Kleidung oder aufgesparten Lebensmitteln war im Lageralltag omnipräsent. Allerdings gehörte das soeben dargelegte Beispiel noch zu den Harmloseren: Auch das Denunzieren fehlbaren Verhaltensweisen von Mithäftlingen fanden zahlreich statt. Insgesamt gesagt: der Selbstschutz auf Kosten Anderer. Wenn jetzt allerdings bei einem Häftling, der sich auf Kosten Anderer Vorteile verschaffte und dies zu seinem Überleben beitrug, dann konnte dies zu erheblichen psychischen Problemen führen.
Diese psychischen Probleme der Betroffenen waren teilweise auf eine derartige Weise ausgeprägt, dass sie die Überlebenden teilweise noch Jahre nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern in den Selbstmord trieben, wiederum andere vermieden es für die restliche Zeit ihres Lebens, Gespräche über die Thematik des Holocaust zu führen. Der Grund dafür liegt einzig und allein darin, dass sie als den Holocaust überlebt hatten. Warum Sie? Es hätte doch ebenso jemand Anderes sein können, dessen Herz auch nach der Zeit im Konzentrationslager noch weiterhin hätte schlagen können. Verstärkend auf diese bereits von vorneherein überaus schwierigen Gedankengänge wirkte sich noch der Fakt aus, dass das Überleben des Konzentrationslagers einfach nur so kaum möglich war. Will heissen, dass man sich Vorteile in der Lagerhierarchie, in der Kommandozugehörigkeit et cetera, die für das Überleben dienlich waren, auf irgendeine Art und Weise erkämpfen musste.
..und was mache ich nun damit?
Um mich diesem Thema ein Bisschen weiter anzunähern, will ich nun folgende Frage aus meiner Perspektive beantworten: Ist es menschlich, sein Überleben in einer solchen Situation zum Nachteil Anderer zu sichern?
Meines Erachtens ist es nichts als menschlich, dass man in derartigen Extremsituationen sich selbst am nächsten ist. Dazu gehört gezwungenermassen auch, dass man für die Rettung der eigenen Haut auch Nachteile für andere Mitmenschen in Kauf nimmt - wobei die Bezeichnung als 'Nachteile' hier explizit als Euphemismus benannt werden muss, da beispielsweise schon das Denunzieren von Mithäftlingen deren Tod bedeuten konnte.
Der Überlebenswillen ist tief im Menschen verankert, ohne ihn wäre es fragwürdig, ob die Spezies des Menschen überhaupt noch existieren würde - wie hätte er auch überleben sollen, ohne zuerst an sich zu denken?
Die ganze Sache gestaltet sich allerdings noch ein kleines Bisschen komplizierter, denn wir Menschen folgen mehr als nur unseren Instinkten. Wir alle vertreten gewisse Einstellungen und Werte, des Weiteren haben wir eine gewisse Vorstellung von Moral als gesellschaftliche Konvention, die besagt, was als 'gut' und was als 'schlecht' angesehen wird. Aufgrund dessen kann es bei den Überlebenden des Holocaust auch überhaupt zu Gefühlen der Schuld aufgrund dessen kommen, dass ihr Herz im Gegensatz zu dem von vielen noch schlägt.
Im Angesicht der Tatsache, dass der Mensch in Extremsituationen seinem natürlichen Instinkt folgt, ist die Beantwortung dieser Frage für mich ein Leichtes: Ja, es ist menschlich, sein eigenes Überleben auch notfalls mit der Inkaufnahme von Gefahr für andere Menschen zu sichern. Und nein, die dadurch entstehenden Schuldgefühle erachte ich nicht als begründet - auch wenn es dennoch überaus nachvollziehbar ist, weshalb diese entstehen.
Doch alle diese möglichen Gründe, weshalb sich Überlebende des Holocaust schuldig fühlen, dürfen nicht über die eigentlichen Schuldigen hinwegtäuschen. Niemals.