Der Deutschunterricht in den vergangenen Wochen war einem absoluten Klassiker gewidmet: Nathan der Weise, geschrieben von Gotthold Ephraim Lessing. Nathan der Weise spielt in Jerusalem während einem Waffenstillstand zur Zeit des dritten Kreuzzuges. Als am Anfang des Werks der jüdische Kaufmann Nathan von einer Geschäftsreise zurückkehrt, erfährt er, dass seine Pflegetochter Recha von einem christlichen Tempelherrn aus Nathans brennendem Haus gerettet wurde, das während seiner Absenz in Brand geriet. Der Tempelherr wiederum verdankt sein Leben wiederum dem Sultan Saladin, welcher ihn aufgrund seiner Ähnlichkeit zu seinem verschollenen Bruder Assad von der Hinrichtung bewahrte. Recha, die Pflegetochter Nathans, lebt trotz ihrer christlichen Konfession unter der Ägide ihres jüdischen Pflegevaters Nathan. Da Nathan ein überzeugter Verfechter der religiösen Toleranz ist, erzieht er Recha jedoch nicht fortan als Jüdin, sondern überlässt sie hinsichtlich ihrer Religionszugehörigkeit sich selbst. Da die Stadt Jerusalem für alle drei monotheistischen Weltreligionen sehr wichtig ist, findet natürlich auch das Christentum Einzug in das Werk. Dies geschieht, neben dem Tempelherrn, mit dem Patriarchen - dieser bekleidet das Amt des ranghöchsten Christen in Jerusalem. Auch er unterliegt allerdings dem Sultan Saladin. Der Patriarch verkörpert in 'Nathan der Weise' genau diese Denkweise, die Lessing mittels diesem Werk zu kritisieren gedenkt: Denn der Patriarch handelt fundamentalistisch und dogmatisch.
Doch was bedeuten die Begriffe Fundamentalismus und Dogmatismus überhaupt? Zuallererst sei gesagt, dass sich diese beiden Begriffe sehr stark ähnlich sind. Beide beschreiben eine Denkweise, die von Festigkeit, fehlender Selbstreflexion und Ideologie oder Religion geprägt sind. Beide Denkweisen erheben einen Anspruch der nicht zu hinterfragendenden Korrektheit, kritische Stimmen werden abgelehnt. Dennoch gibt es einige triftige Gründe, den Unterschieden zwischen Fundamentalismus und Dogmatismus Aufmerksamkeit zuzuschreiben: Im Gegensatz zum Dogmatismus tritt der Fundamentalismus vermehrt im religiösen Kontext auf. Ferner zielt der Fundamentalismus oftmals auf eine Rückbesinnung auf alte Lehren oder Schriften - beispielsweise die Bibel - ab, während dieses "Rückwärtsgewandte" beim Dogmatismus oftmals fehlt. Das fehlende Hinterfragen von Ansichten ist besonders ein Merkmal des Dogmatismus. Dadurch, dass fundamentalistisch denkenden Menschen oftmals eine Besinnung auf alte Lehren oder Schriften wichtig ist, können diese besonders an Orten angetroffen werden, wo eine religiöse Vielfalt herrscht - wie es beispielsweise in Jerusalem schon damals der Fall war und auch heute noch ist. Denn wenn Religionen aufeinandertreffen, vermischen sich diese schon fast zwangsläufig und dabei kann es sehr schnell zu Abweichungen von Lehren aus religiösen Schriften kommen. Dies ruft allerdings dann die Fundamentalist:innen auf den Plan, die damit selbstverständlich nicht einverstanden sind und auf eine Rückbesinnung auf die jeweiligen religiösen Schriften pochen. Die von den Fundamentalist:innen gewollte Rückbesinnung auf ebendiese zweifellos wahren Schriften kann zuweilen auch mit Militanz herbeigeführt werden.
Alle diese Merkmale, die sowohl Fundamentalismus als auch Dogmatismus ausmachen, vereint der Patriarch in sich. So ist er entweder nicht in der Lage oder nicht willens, die Ansichten der Kirche zu hinterfragen. Zum Beispiel die Tatsache, dass Recha (als Christin geboren) von Nathan (Jude) erzogen wird, ist für ihn vollkommen inakzeptabel. Als er dann die Tötung Nathans anordnet, wird der Leser:in klar, dass ihm das Wohlergehen Rechas egal ist - Nathan ist zwar nicht ihr leiblicher Vater und nicht gleicher Konfession wie sie, aber dennoch rettete er ihr durch ihre Aufnahme unter seinem Dach das Leben. Gleichzeitig ist auch der Sachverhalt vom Aufeinandertreffen der Religionen in diesem Sachverhalt sichtbar, doch dies ist der Patriarch nicht bereit zu akzeptieren und so will er die Einhaltung der christlichen Regeln mit Gewalt herbeiführen - der Tötung Nathans. Somit kann mit Fug und Recht gesagt werden, dass das Verhalten des Patriarchen sowohl fundamentalistisch als auch dogmatisch geprägt ist.
Zwischen der Zeit Nathans, Rechas und den restlichen Figuren besagter Geschichte und unserer liegen Jahrhunderte. Vieles hat sich verändert, einiges ist geblieben - darunter auch der Dogmatismus. Dieser ist auch noch heutzutage im politischen Diskurs anzutreffen. Ein prominentes Beispiel dafür liefert die Debatte rund um eine der nationalen Vorlagen, über welche das Stimmvolk am 24. November dieses Jahres abstimmen darf: der Autobahnausbau. Die Befürworter:innen dieser Vorlage, allen voran Bundesrat Albert Rösti mit seinem Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) sagen folgendes: Die Autobahnen der Schweiz sind überlastet. Dies macht einen Ausbau ebendieser notwendig, um die Kapazität zu erhöhen und somit die Staus auf den Autobahnen aufzulösen. Es wäre ja schön, wenn man dem Problem der verstopften Strassen einfach mit einem Infrastrukturausbau begegnen könnte - doch leider ist dies nicht ganz so einfach. Denn eine erhöhte Kapazität der Strassen sorgt für nur kurzzeitig für Entlastung, anschliessend beginnen durch die erhöhte Kapazität der Strasse mehr Menschen damit, auf das Auto als Verkehrsmittel zu setzen - Stichwort induzierter Verkehr. Dieses Argument wird allerdings von Rösti und Gefolgschaft nicht diskutiert, stattdessen wird schon fast gebetsmühlenartig erzählt, wie der Ausbau der Autobahnen für langfristige Entlastung sorgen würde.
Und worin soll hier nun der Dogmatismus liegen? Die fehlende Offenheit gegenüber kritischen Stimmen ist bei dieser Thematik zweifelsohne gegeben – dadurch, dass Argumente gegen den Ausbau von den Befürworter:innen nicht diskutiert werden. Eine sachliche Auseinandersetzung mit Gegenargumenten könnte den Befürworter:innen eigentlich helfen, gegnerische Argumente zu entkräften und so mehr Menschen von der Notwendigkeit des Autobahnausbaus zu überzeugen. Dass das eigentliche Ziel dieser Vorlage – die Reduktion von Staustunden – mit den geplanten Ausbauten nicht zu erreichen ist, wird von den Befürworter:innen dieser Vorlage nicht zur Kenntnis genommen. Auch über die Meinung von über 340 Verkehrsfachpersonen, dass diese Vorlage das Erreichen ihres beabsichtigten Zieles nicht erwirken kann, verliert beispielsweise Bundesrat Rösti kein ernsthaftes Wort. Denn durch den Ausbau der Autobahnen könnten ja die Staustunden reduziert werden, hat mal ein kluger Mann im Bundeshaus gesagt. Es braucht ja nur etwas Beton – und Geld.